❄️ Die Schweigende Weite

❄️ Die Schweigende Weite

Ein Ort, an dem der Klang stirbt, bevor er geboren wird.


Es beginnt mit einem Laut, den man nicht hört – sondern verliert.

Nicht weil er verschwindet, sondern weil er nie richtig existierte.
Denn hier, am Rande von allem,
wo Himmel und Boden denselben fahlen Ton tragen,
lebt die Stille nicht in Abwesenheit – sondern als eigenes Wesen.


Wer sich der Schweigenden Weite nähert, merkt es nicht sofort.
Er sieht vielleicht den Frost, den endlosen Schnee,
die flachen Ebenen und das gläserne Licht,
das sich über das Land legt wie eine zarte Haut aus Milch.

Doch was fehlt, ist jedes Echo.
Kein Knirschen unter Stiefeln.
Kein Atemstoß.
Kein Herzschlag, der hörbar gegen das Trommelfell pocht.
Als wäre das Ohr betäubt, bevor der Frost überhaupt beginnt.


Der Boden ist kein Schnee, nicht im eigentlichen Sinn.
Er ist verdichtetes Schweigen
geschichtet in Jahrtausenden,
gepresst von Wind, der nichts mit sich trägt.

Manche nennen es „Schatteneis“.
Andere sagen: „Es ist nicht, was es scheint.“

Denn gelegentlich… knackt etwas.
Nicht nah. Nicht greifbar.
Ein fernes Knacken, tief unter der Fläche.
Wie das langsame Aufbrechen eines gewaltigen Mundes –
der bisher nur geschlafen hat.


Im Licht der Weite ist nichts beständig.
Der Tag wirkt, als würde er ewig dauern –
und endet dann plötzlich in einem violetten Flimmern,
das den Horizont verschluckt.

Nacht ist keine Dunkelheit,
sondern ein Übermaß an Kälte,
das selbst Licht in sich gefrieren lässt.

Dann beginnt der Nebel.
Er kommt aus dem Boden, nicht vom Himmel.
Und manchmal bringt er Dinge mit sich –
Gestalten, die man nur am Rand des Blickfelds sieht.
Oder Linien im Schnee,
die vorher nicht da waren
und beim nächsten Blick wieder verschwunden sind.


Die Gelehrten von Miriel glauben,
die Weite sei der Ort,
an dem die ersten Töne Thandorias geboren wurden.
Dass der Gesang der Sphären hier auf das Nichts traf –
und nur das Kälte war bereit zuzuhören.

Sie glauben auch,
dass in der Tiefe der Weite
noch Fragmente dieses ersten Liedes ruhen.

Und dass man sie… manchmal hören kann.
Nicht mit dem Ohr,
sondern mit dem Teil des Geistes,
der für gewöhnlich träumt.


Der Himmel über der Weite ist klar.
Doch manchmal flackert er –
nicht wie ein Nordlicht,
sondern in Mustern,
die sich wiederholen.
Spiralen. Glyphen.
Zu schnell, um sie zu verstehen.
Zu langsam, um sie zu vergessen.

In alten Reiseberichten steht,
dass einzelne Wanderer
diese Muster nicht nur gesehen,
sondern gespürt hätten.

Sie sprachen von einem „Singen in den Knochen“.
Von Träumen, die nicht ihnen gehörten.
Von Erinnerungen, die keine Wurzeln hatten.


Es gibt keine Wege.
Doch die Weite selbst… zeigt manchmal Richtungen.

Eisformationen,
die sich wie Tore wölben.
Grate aus Kristall,
die exakt nach Sternbildern ausgerichtet sind.
Rillen im Boden,
die aussehen wie Schriftzüge –
wenn man sie nur lange genug ansieht.

Was sie bedeuten, weiß niemand.
Oder niemand erzählt es.

Denn wer aus der Weite zurückkehrt,
spricht oft leiser als zuvor.
Manche hören gar nicht mehr auf zu schweigen.


Und doch zieht sie an.
Nicht trotz, sondern wegen ihrer Stille.

Sie ist kein Ort, an dem man etwas findet.
Sie ist ein Ort, an dem Dinge übrigbleiben.
Wahrheiten. Gedanken.
Fehler.
Oder… Möglichkeiten.


Man erzählt sich in Tavernen von einem Obelisken,
eingefroren im Zentrum der Weite –
so groß, dass sein Schatten tagelang wandert.
Manche behaupten, er singe,
wenn man das Ohr an ihn legt.
Andere sagen: Er lauscht.
Und speichert jedes Wort,
das je in Thandoria gesprochen wurde.

Nur niemand weiß mehr genau,
wo das Zentrum liegt.
Denn die Weite verschiebt sich –
nicht räumlich,
sondern wahrnehmbar.

Was einmal Nord war,
ist später West.
Was gestern offen lag,
ist heute ein Abgrund.


Trotz aller Kälte stirbt hier nichts.
Im Gegenteil.
Etwas wartet.

Nicht feindlich. Nicht freundlich.
Nur… still.

Und wenn der Wind weht –
wirklich weht –
dann könnte es sein,
dass du es hörst.

Nicht laut. Nicht deutlich.
Nur ein einzelner Ton.

Wie eine Saite,
die weit, weit entfernt gerissen ist –
und deren Nachklang
immer noch zittert.


Und du wirst dich fragen:

War er in der Luft?
Im Boden?
Oder… in dir?