⛰ Der Grat von Vael’dor

⛰ Der Grat von Vael’dor

Manche Berge stehen. Manche Berge warten.


Von weitem wirkt der Grat wie jede andere Gebirgskette – schroff, gezackt, mit Gipfeln, die sich wie Speere gegen den Himmel stemmen.
Doch wer näher kommt, erkennt: Diese Zacken sind zu gleichmäßig,
diese Linien zu präzise, um nur Laune der Natur zu sein.
Als hätte jemand den Fels nicht geformt – sondern gestimmt.


Der Aufstieg beginnt nicht mit dem ersten Schritt,
sondern mit dem ersten Ton.
Er ist tief, kaum hörbar,
ein Summen, das in den Knochen hängt und nicht in den Ohren.
Es ändert sich mit jedem Schritt,
manchmal heller, manchmal dumpfer –
als wüsste der Berg genau, wo man steht.


Der Boden ist kein loses Geröll.
Die Steine sind glatt,
fast poliert,
mit feinen Furchen, die sich unter den Händen kalt und alt anfühlen.
Manche verlaufen wie Saiten,
andere kreuzen sich zu Mustern,
die im Licht wie Runen wirken –
oder wie Notenlinien.

Zwischen den Felsen öffnen sich Höhlen,
deren Eingänge zu perfekt geformt sind.
Nicht rund.
Nicht kantig.
Sondern… absichtlich.
Wie Türen,
die seit Jahrtausenden auf etwas warten,
das sie wieder betritt.


Der Wind hier ist unruhig.
Er kommt nicht aus einer Richtung,
sondern aus vielen zugleich –
als würde er durch unsichtbare Kanäle geleitet.
Manchmal trägt er ein fernes Donnern,
obwohl der Himmel klar ist.
Manchmal bringt er einen Rhythmus,
den der eigene Herzschlag übernehmen möchte.

Wer lange genug lauscht,
merkt, dass der Grat nicht nur schallt
er antwortet.


An den höchsten Punkten hallt die Stille nicht leer,
sondern voll.
Als wäre der Berg ein Instrument,
und jeder Schritt, jeder Laut, jede Bewegung
nur eine Probe für ein Lied,
das er seit Ewigkeiten kennt.


Es gibt hier Spalten,
so tief, dass kein Licht sie erreicht.
Manche sind schmal,
andere weit wie Hallen –
gefüllt mit Nebel,
der nicht aufsteigt, sondern im Takt pulsiert.

An ihren Rändern leuchtet der Fels manchmal blass –
nicht stark,
nur so, dass man sich fragt,
ob es wirklich passiert.

Die Alten sagen,
das sei der Atem des Berges.
Andere sagen,
es sei sein Blick.


Der Grat von Vael’dor trägt seinen Namen nicht zufällig.
Er ist nach jenem Arkanarch benannt,
der einst das Lied der Sphären zerriss.
Manche glauben,
er habe hier seinen letzten Ton gesungen –
und der Berg habe ihn aufgenommen.

Seitdem sei er nicht mehr nur Stein,
sondern Zeuge.


Bei Sturm verändert sich der Klang.
Die Böen werden zu Chören,
die Felsen zu Trommeln,
der Boden zu einer schwingenden Saite.
Es gibt Berichte von Reisenden,
die schwören,
sie hätten ganze Melodien gehört.
Nicht schön.
Nicht hässlich.
Nur wahr.


Doch der Grat ist kein Ort für Leichtfüßige.
Er prüft.
Er zwingt.
Und er fragt nicht.

Wer ihn betritt,
muss bereit sein,
eine Antwort zu geben –
auch wenn er die Frage nicht kennt.


Man sagt,
wer den Gipfel erreicht,
hört einen letzten Ton.
Er ist klar.
Er ist rein.
Und er ist endgültig.

Nicht, weil er endet –
sondern weil er bleibt.